Autorinnen: Lenkowski, Martina; Mayer-Lewis, Birgit
Elternschaft und Familie haben in Deutschland einen hohen Stellenwert. 65% der Menschen in Deutschland bejahten 2018 die Frage, ob es eine Familie braucht, um wirklich glücklich zu sein. 87% der kinderlosen Männer und Frauen im Alter von 24 bis 44 Jahren empfinden es als selbstverständlich, dass Kinder zum Leben dazugehören (Bundeszentrale für politische Bildung 2021). Dennoch ist die Anzahl der in Deutschland lebenden Familien in den letzten zwei Jahrzehnten um 12% zurückgegangen (Statistisches Bundesamt 2022a). Ferner verschiebt sich der Zeitpunkt der Familiengründung im Lebensverlauf immer weiter nach hinten. 2010 lag der Altersdurchschnitt der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes bei 29,0 Jahren (Statistisches Bundesamt 2022b). Inzwischen ist dieser Wert auf 30,5 Jahre gestiegen (Statistisches Bundesamt 2022c). Neben dieser Dynamik zeigt sich außerdem, dass immer mehr Frauen und Männer trotz eines Kinderwunsches ungewollt kinderlos sind. In Deutschland sind von allen kinderlosen Frauen und Männern im Alter zwischen 20 und 50 Jahren 32% ungewollt kinderlos (Wippermann 2021).
Dabei sind die Gründe einer ungewollten Kinderlosigkeit vielfältig und die Gruppe der ungewollt Kinderlosen sehr heterogen (Wippermann 2021). Dennoch lassen sich vier Faktoren herausarbeiten (siehe Abbildung 1), welche die Zunahme der Anzahl von Frauen und Männern mit unerfülltem Kinderwunsch erklären können (Mayer-Lewis 2019):
1. Soziokulturelle Faktoren
2. Fehlendes Wissen über die natürliche Fruchtbarkeit (Fertilität)
3. Fruchtbarkeitseinschränkungen und organischen Fehlfunktionen
4. Lebensstilfaktoren und Pluralität
Zur Aufschiebung der Familiengründung in ein höheres Lebensalter tragen vor allem soziokulturelle Faktoren und fehlendes Fertilitätswissen bei. So können z. B. lange Ausbildungszeiten, befristete oder unsichere Arbeitsverhältnisse, eine erst im höheren Erwachsenenalter erwirkte ökonomische Selbstständigkeit sowie auch eine fehlende oder erst späte Etablierung einer langfristig tragbaren Partnerschaft dazu führen, dass Frauen und Männer sich erst nach dem dreißigsten Lebensjahr für die Realisierung der Familiengründung einsetzen. Zusätzlich hängt das Aufschieben der Familiengründung in eine spätere Lebensphase möglicherweise auch mit falschen Vorstellungen über die weibliche Fertilität zusammen. Eine Studie zeigt, dass rund 85 % der 18- bis 50-jährigen Frauen und Männer die Altersabhängigkeit der natürlichen Fruchtbarkeit falsch einschätzen und glauben, dass die Fruchtbarkeit bei Frauen erst ab einem Alter von 35 Jahren oder älter abnimmt (Stoebel-Richter et al. 2012). Dadurch kann es zu altersindizierten Fertilitätseinschränkungen kommen. Denn umso älter das Lebensalter der potenziellen Mutter und/oder des Vaters ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer spontanen Zeugung mit austragbarer Schwangerschaft kommt. Die natürliche Fruchtbarkeit der Frau nimmt bereits ab dem 25. Lebensjahr stetig ab (Gnoth 2020; Wölfler 2021), wodurch aufgrund der Aufschiebung der Familiengründung altersindizierte Fertilitätseinschränkungen immer häufiger Ursache eines unerfüllten Kinderwunsches sind.
Neben der Aufschiebung der Familiengründung aus soziokulturellen Gründen und fehlendem Fertilitätswissen sind auch organische Fruchtbarkeitseinschränkungen häufig die Ursache für ungewollte Kinderlosigkeit. Dabei werden diese Einschränkungen bei Frauen und Männern ungefähr gleich häufig diagnostiziert (Schuppe et al. 2017). Darüber hinaus äußern aufgrund der liberalen gesellschaftsdynamischen Entwicklungen hinsichtlich der Entstigmatisierung gleichgeschlechtlicher Lebensformen auch gleichgeschlechtliche Paare immer häufiger den Wunsch, eine Familie zu gründen. Sofern weder Adoption noch Pflegeelternschaft als Alternative anvisiert werden, ist deren Familiengründung aufgrund der biologischen Gegebenheiten nur über die Assistenz Dritter (Gametenspende, reproduktionsmedizinische Assistenz) möglich. Dies gilt auch für eine zunehmende Anzahl Alleinstehender, die auch außerhalb einer Partnerschaft einen Kinderwunsch haben können.
Die steigende Pluralisierung der Lebensformen, die Aufschiebung der Familiengründung in ein höheres Lebensalter sowie die inzwischen niedrigschwellig zur Verfügung stehenden reproduktionsmedizinischen Angebote haben eine vermehrte Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Unterstützung zur Folge. 2021 wurden allein in Deutschland 125.542 Behandlungszyklen im Rahmen der Reproduktionsmedizin durchgeführt (D.I.R. 2022).
Abbildung 1: Gründe für das Aufschieben der Familiengründung (Mayer-Lewis 2019, 8)
Bei vielen Frauen, Männern und Paaren kann ein Kinderwunsch mit reproduktionsmedizinischer Assistenz erfüllt werden. Seit 1997 ist die Anzahl der Kinder, die mit Hilfe der Reproduktionsmedizin geboren wurden, von 6.577 auf 22.209 im Jahr 2020 gestiegen (D.I.R. 2022).
Aber auch bei der Familiengründung mit Hilfe der Reproduktionsmedizin hängt der Behandlungserfolg eng mit dem Alter (vor allem der Frau) zusammen. „Bei Frauen bis zum Alter von 32 Jahren sind Schwangerschaftswahrscheinlichkeiten von über 40% pro Transfer möglich. Ab dem 33. Lebensjahr sinkt die Schwangerschaftsrate jedoch kontinuierlich, ab dem 40. Lebensjahr liegt sie unter 20%, während sie ab 45 nur noch bei 2,6% pro Embryotransfer liegt.“ (D.I.R. 2022, 10)
Neben der Schwangerschaftsrate, also der Wahrscheinlichkeit, dass eine Schwangerschaft eintritt, ist auch die Geburtenrate nach Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Assistenz zu berücksichtigen. Denn auf die Geburtenrate hat das Alter der Frau einen noch größeren Einfluss als auf die Schwangerschaftsrate: Bei Frauen im Alter bis 33 Jahren liegt die Geburtenrate bei 30%, ab einem Alter von 39 Jahren liegt sie unter 20%. „Ab 45 Jahren kam es lediglich zu zwei Geburten in ganz Deutschland“ (D.I.R. 2022, 10).
Fazit
Die Reproduktionsmedizin leistet in unserer Gesellschaft inzwischen einen enormen Beitrag zur Familiengründung vieler. Rund 3% aller Kinder werden inzwischen mit Hilfe einer sogenannten „künstlichen Befruchtung“ – also einer Befruchtung außerhalb des Mutterleibes – gezeugt (D.I.R. 2018). Sowohl bei organischen und altersindizierten Fertilitätseinschränken als auch für Paare in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder alleinstehenden Frauen kann eine reproduktionsmedizinische Behandlung helfen, den Kinderwunsch zu erfüllen. Jedoch sind auch die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin kein Garant für ein Kind. Auch hier bleibt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Schwangerschaft eintritt und eine Lebendgeburt folgt, vom Alter abhängig. Der Zeitpunkt der Familiengründung hängt eng mit dem Erfolg zusammen, weshalb die gesellschaftsdynamischen Entwicklungen in den Blick genommen werden müssen, um weitere Prokrastinationseffekte zu vermeiden.
Quellen:
Bundeszentrale für politische Bildung (2021). Datenreport 2021.
Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Online verfügbar unter
https://www.bib.bund.de/Publikation/2021/Datenreport-2021-Ein-Sozialbericht-fuer-die-Bundesrepublik-Deutschland.html?nn=1219558.
Unter dem Titel "Kinderwunsch im Fokus: Kompetenzen rund um den Kinderwunsch erweitern – Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt "KompKi"" fand der große Abschlussfachtag statt.
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